Demokratie muss wehrhaft sein

Deniss Hanovs · 

Gespräch mit Yuriy Krotov

Könntest du bitte unseren Leser*innen erklären, was sich hinter der Abkürzung MIGRAS verbirgt? Wie verläuft dieses Bildungsformat im realen Leben?

Migras ist die ironische Selbstbezeichnung von Migrant*innen. Zumindest in unserer multikulturellen Region (NRW) trifft man auf dieses Wort. Wir haben beschlossen, ironisch über uns selbst zu sprechen und das Quiz so zu nennen. An dem Quiz nehmen 3-4 Teams mit 3 bis 10 Personen teil. Wir stellen diesen Teams Fragen und geben ihnen eine Minute Zeit zum Überlegen. Alle Antworten haben auf die eine oder andere Weise mit einer Zahl zu tun. Zum Beispiel: Wie viel Prozent der Berliner Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund, oder in welchem Jahr kamen die meisten Spätaussiedler*innen nach Deutschland? Natürlich kennen wenige die genauen Antworten auf diese Fragen, aber es gibt eine gewisse Logik hinter jeder Frage. Die Teilnehmenden geben Antworten und erklären die Logik ihrer Antworten. Z.B. “Das könnte im Jahre 1992 sein, weil…/ Das könnten 50% der Bevölkerung sein, weil…” Danach erfahren sie die richtige Antwort.

Das Team, dessen Antwort der richtigen Antwort am nächsten liegt, erhält einen Punkt für diese Frage. Nach 10 oder 15 Fragen (je nach Dauer der Veranstaltung) zählen wir die Punkte zusammen und ermitteln das Gewinner*innen-Team.  Oft hören wir Stereotype in den Antworten, wie z. B. "Jüd*innen treten ihren Gemeinden nicht bei, weil man dort Beiträge zahlen muss, und sie sind doch Jüd*innen..." (Ja, so etwas gab es tatsächlich!). In solchen Fällen beginnen wir eine Diskussion: "Und woher nimmst du die Meinung, dass Jüd*innen gierig sind...?" usw. Meistens führen die nicht auf der Realität basierenden Stereotypen in die Sackgasse und die Person merkt, dass es einfältig war...

Und natürlich ist es auch wichtig, dass wir mit den richtigen Antworten so viele Kontextinformationen wie möglich zu jedem Thema geben. Je mehr man erfährt, desto weniger wird man sich von Stereotypen - auch diskriminierenden - leiten lassen.

 

Wie bist du auf die Idee dieses Formats gekommen, welche Impulse hattest du aus der aktuellen Politik erhalten?

Nach jahrzehntelanger Zuwanderung sind Migration und Integration zu zentralen Themen in der deutschen Gesellschaft geworden. Man spricht von einer Migrationsgesellschaft. Darunter ist eine Gesellschaft zu verstehen, in der Migrant*innen keine Gäste sind, sondern gleichberechtigte Mitglieder; eine Gesellschaft, für die die Zuwanderung konstitutiv ist und die dies auch anerkennt.

Mir scheint, dass diese deutsche Realität leider immer noch keinen endgültigen Platz in den Köpfen gefunden hat. Ich kann nicht für alle Migrant*innen sprechen, aber ich persönlich höre die Frage "Woher kommst du?" immer wieder - auch nach 20 Jahren in Deutschland. Und die Antwort: "Aus Deutschland" oder "aus Köln" passt dem Fragestellenden oft nicht: sonst hätte er ja nicht gefragt. Er braucht eine “passende” Schublade für dich.

Und dann gibt es auch oft das Phänomen der herabsetzenden Verallgemeinerung aufgrund der gemeinsamen Sprache und Geschichte unterschiedlicher Gruppen. Zum Beispiel eine verallgemeinernde Bezeichnung für alle Russischsprachigen: die Russen. Die Ukrainer*innen, Belarus*innen, jüdische Kontingentflüchtlinge und Spätaussiedler*innen fallen für viele Menschen in Deutschland in eine Kategorie: die Russen. Das will sich aber niemand mehr gefallen lassen. Im Kontext des aktuellen Krieges ist dies völlig daneben. Kann die neue politische Realität in den postsowjetischen Ländern, in Europa und in der Welt insgesamt aufgrund des Krieges der Diktatur gegen die Demokratie als politischer Impuls für die Schaffung von Migras bezeichnet werden? Dann ist das so.

Und außerdem…auf der einen Seite ist es paradox, auf der anderen Seite ist es auch ganz normal und menschlich, dass auch Migrantinnen und Migranten sehr wenig über ihre Communitys und noch weniger über andere Gruppen in Deutschland wissen. All dem muss für ein friedliches Zusammenleben hier in Deutschland mit der Aufklärung begegnet werden - das haben wir uns gedacht und Migras ins Leben gerufen.

Was sind d.E. Gründe dafür, dass immer mehr Menschen sich weltweit, aber auch in Deutschland von rassistischen und fremdenfeindlichen Ideen und Parolen verführen lassen? Was sollte man diesen Vorstellungen entgegensetzen?

Meiner Meinung nach werden Fremdenfeindlichkeit und Rassismus durch starke soziale Ungerechtigkeit genährt. Ohne Gerechtigkeit kann es kein friedliches Leben geben. Die Demokratie gibt den Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen, komplizierte und vielfältige Antworten. Populisten und Diktatoren hingegen geben einfache Antworten: wegnehmen, umverteilen, vertreiben, zu veralteten Werten zurückkehren, einsperren, töten; oder die Schuld an allem haben: “die da oben”, Jud*innen, Muslim*innen, Wissenschaftler*innen, Flüchtlinge etc.

Die Demokratie hält sich an die Regeln, aber für die Diktatur, oder für die Populist*innen gibt es keine Regeln. Sowohl der/die Populist*in als auch der/die Diktator*in stellen die moralische und ethische Grenze immer wieder in Frage und verschieben sie Zentimeter für Zentimeter, bis sie platzt, wie es zum Beispiel in Russland geschehen ist. Ich habe in Russland viele bekannte Menschen und ja auch Freunde, für die Worte und Taten nicht die Bedeutung haben, die sie für mich haben. Es ist, als ob wir verschiedene Sprachen sprechen würden. Ohne moralische und ethische Grenzen ist alles möglich: Antisemitismus, Homophobie, Rassismus, militarisierter religiöser Fundamentalismus... Hauptsache ist, dass man das Regime unterstützt, dann darfst du praktisch alles.

Das Virus radikaler Ideologien macht genauso wie das Coronavirus nicht an den Landesgrenzen halt. Für radikale Ideen hat niemand die Globalisierung aufgehoben.  

Auch in Deutschland verlangen immer mehr Menschen einfache Antworten auf schwierige Fragen. Unter dem Deckmantel einfacher Antworten werden radikale Ideen in die Köpfe der Menschen gepflanzt. Mit den heutigen sozialen Medien geht das auch noch schneller.

Ich kenne kein einfaches Rezept gegen das Virus radikaler Ideologien. Ich weiß nur, dass die demokratischen Kräfte stärker, schneller, präziser und vor allem entschlossener sein müssen. Wir müssen die von der Demokratie desillusionierten Menschen zurückholen. Wir müssen erkennen, welche grundlegenden Dinge sie wirklich vermissen. Ich habe einmal einen Kollegen sagen hören: "Für mein Kind gibt es keinen Platz im Kindergarten! Bei den nächsten Wahlen stimme ich für...!" - und nannte eine populistische Partei. Das ist völlig absurd, aber genau das ist oft der Fall. Und nichts, als ein vom Himmel gefallener Kindergartenplatz für sein Kind, wird diesen Mann umstimmen; vielleicht auch das nicht, weil es noch viele andere Unzufriedenheiten gibt. Übrigens ist er selbst ein Migrant. Auch das ist nicht immer ein Argument. Wir leben in einer Welt der kognitiven Widersprüche.

Und natürlich ist ein anderes gutes Mittel-die Bildung. Das ist der Teil, für den der Staat/das Land/die Stadt und nicht weniger die Zivilgesellschaft verantwortlich sind. Der BVRE e.V. gibt hier sein ganzes Engagement. Das ist es, was wir radikalen Ideologien entgegensetzen können. Und wir werden es tun, auch wenn es manchmal aussichtslos erscheint.

Und noch etwas Wichtiges: Ohne einen vollständigen und bedingungslosen Sieg der Ukraine über Russland wird es früher oder später allen schlecht gehen - auch in Deutschland.  Radikale Ideologien werden noch radikaler werden, sich noch mutiger fühlen und geografisch näher an die EU heranrücken. Sie werden erstarken und weitergehen. Daran habe ich keinen Zweifel. Ohne den Sieg der Ukraine wird es letztendlich allen und überall schlecht ergehen.