Das Herz darf die Türen nicht verschließen

Deniss Hanovs · 

Ein Gespräch mit Herrn Wladimir Weinberg, einem Geschäftsführer des Bundesverbandes russischsprachiger Eltern e.V. (BVRE), Pädagogen, zivilgesellschaftlichen Aktivisten. Das Gespräch ist dem Seminar am 17. Oktober 2023 im Rahmen des Projektes “Im Plural” gewidmet.

Warum und in welcher Form wurden individuelle Geschichten von Leiden und Rettung zu einer Art Theaterperformance?

Unsere Maßnahme bestand aus zwei Teilen: eine kurze, zehnminütige Performance mit verschiedenen visuellen Symbolen, eine Art Brücke zu dem zweiten Teil - den Erzählungen von den Teilnehmenden, die dann am Abend ihre Geschichten erzählten. Danach folgten meine Fragen.

Es war mir sehr wichtig, einen besonderen emotionalen Zustand von Hörer*innen und Teilnehmenden für die zwei Stunden der Diskussion zu gestalten. Visuelle Mittel waren von großer Bedeutung. Auf der Bühne befanden sich drei außerordentlich mutige Menschen, die viel gelitten haben, die aber nicht verzweifelt sind: Alla Buhorska aus Charkiw, Irina Gurskaya aus Pensa und Aiman Boubaker, der 14 Jahre lang in Poltawa in der Ukraine gelebt hat, zum ukrainischen Patrioten geworden ist, geboren aber in Tunesien.

Wir haben uns lange auf den Abend am 17. Oktober vorbereitet. Zuerst habe ich die Geschichten von den drei Sprecher*innen aufgezeichnet und wir haben mehrmals darüber gesprochen, wie wir den Abend und das schwierige Gespräch gestalten würden - wie kann das Gespräch für das Publikum zu einer spannenden Erfahrung gestaltet werden? Wir haben lange über ihr Leben in der Ukraine und im Putins Russland, wie im Falle von Irina, diskutiert. Später, im Sommer dieses Jahres, haben wir in Weimar während einer Maßnahme im Rahmen des Projektes „Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft“  von dem Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ viele kreative, multimedial kompetente ukrainische Jugendliche kennengelernt, wie z.B. Vladyslav Solodovnykov und Snizhana Basalyha, sowie später, Animationskünstlerin aus Charkiw Diana Khodiachykh. So entstand ein Team von mehreren medialen Künstler*innen, die viele Ideen für eine visuelle und performative Brücke zu den Geschichten hatten. Junge Künstler*innen fanden die Idee toll und waren ganz Feuer und Flamme.

Unsere Erzähler*innen sind sehr mutige Menschen, die trotz viel Leiden, Entbehrungen und Trauer auch sich selbst überwunden haben und ihre Geschichten den anderen Zuhörer*innen mitteilten. Zuerst besprachen wir das Thema der ersten Stunden nach dem Ausbruch des Krieges Russlands gegen die Ukraine, danach ihre tragischen Erfahrungen des Krieges, wie im Falle von Aiman, der in einem total überfüllten Zug mit zwei kleinen Kindern in dem Zug-WC fahren musste, weil es nirgendwo einen freien Platz gab. Oder der Fall aus dem Putins Russland, das eigene Mitbürger*innen zu Zombies macht und wo es trotzdem genug Mut gibt, anderen Leuten zu helfen, wie es Irina getan hat. Oder dramatische Erfahrung von Alla, die mehrere Tage in der U-Bahn von Charkiw mit ihrer Familie unter den Bomben des Feindes verbracht hat. Sehr offen und spannend waren auch Antworten von unseren Gästen auf die Fragen über ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen des Neuanfangs in Deutschland, über Herausforderungen ihrer Integration in die Realität vom heutigen Deutschland.

 

Wie kann man in dem post-Tatsache-Zeitalter über Schmerz und Mut erzählen?

In den drei Erzählungen über Leid und Mut ist die ganze Wahrheit zum Ausdruck gekommen. Es ist einfach die Wahrheit. Es war auch schwierig, das Gespräch zu strukturieren, denn es waren viele Leute, die sehr aufmerksam zugehört haben. Ich habe in den Augen von vielen Menschen Tränen gesehen. Wir kennen Leute, die neben uns leben, kaum, unsere Nachbarn auch, nicht wahr? Wie ticken sie? Bestimmt sehr unterschiedlich und viele bleiben uns ein Geheimnis. Durch diese drei Geschichten wollten wir die Gedanken und Ideen derer zeigen, die von dem Krieg und Verfolgungen der Diktatur nach Deutschland geflohen sind.  Ich habe keine Ahnung, ob es sich hier um ein post-Tatsachen-Zeitalter handelt. Für mich sind das echte Tragödien und echte geistige Stärke. Eines der Ziele war die Frage - was ist Deutschland für diese Leute? Wir wollten eine informelle Stimmung schaffen. Es war sehr wichtig, diesen Geschichten zuzuhören, zu begreifen, dass man dich versteht und verstehen will. Das passiert selten. Ich glaube, es ist uns gelungen, eine besondere Atmosphäre zu schaffen. Die Geschichten waren sehr dramatisch, manchmal auch “nicht-fertig” und so erreichten sie die Herzen der Zuhörer*innen am schnellsten.

 

Was hilft dir, den Kampf mit dem Bösen im Menschen fortzusetzen, nachdem du diese drei Geschichten gehört hast?

Gerade solche Erzählungen helfen mir sehr, z.B. die Geschichte von Irina aus Pensa, einer Stadt aus der tiefen Provinz Russlands. Sie hat sofort begriffen, dass der Krieg gegen die Ukraine ein Verbrechen ist. Trotz allen Risiken für ihre Sicherheit und ihr Leben, trotz Verfolgung, die in dem heutigen Russland Realität ist, hat sie ab dem ersten Tag des Krieges den Ukrainer*innen geholfen. Um Irina entstand ein Kreis von helfenden Mitmenschen, die ihre Ängste überwunden haben. Auch viele Ukrainer*innen, die durch den Krieg gelitten haben, ihre Familien und ihr Zuhause verloren haben, sind nicht erbittert, sie sind im Stande, der Geschichte des Anderen zuzuhören und für den Frieden zusammenzuarbeiten.

Unsere Kritiker*innen haben uns eine Art “Zwangsfrieden” vorgeworfen. Manche behaupteten, wir dürfen den Teilnehmenden keine Fragen stellen, denn ihre Situation im Leben ist so unterschiedlich. Trotzdem hoffen wir darauf, dass wir den Dialog und Zusammenarbeit, auch mit ganz kleinen Schritten, vorantreiben.